Presse – Leuchtende Kacheln gegen den Mathe-Horror (NDR)

“Du wolltest doch Algebra, da hast du den Salat”, soll Jules Verne einst gesagt haben. Und der ungarische Mathematiker Paul Erdös war sich sicher: “Man lernt Mathematik nicht, man gewöhnt sich nur dran.” Was früher wie heute gilt: Für viele Schüler ist der Mathematik-Unterricht bestenfalls kompliziert und im schlimmsten Fall ein absoluter Angstgegner. Der Westermann-Verlag in Braunschweig und Wissenschaftler der Universität Bremen wollen jetzt neue Lernmethoden dagegensetzen. Im Fokus steht dabei die Algebra. Mit Objekten, die Licht oder Ton aussenden, sollen komplizierte Gleichungen so künftig anzufassen und zu hören sein.

Quadrate machen Mathe zum Kinderspiel

“Smart objects” nennen sich diese kleinen Gegenstände und sie sollen nach der Idee der Forscher für Variablen stehen und dabei helfen, den Umgang mit Formeln und Gleichungen besser zu verstehen. Gerade die Mathematik in den höheren Klassen verlange ein solches Verständnis und viele Schüler täten sich damit oft schwer, sagt Angelika Bikner-Ahsbahs von der Mathematik-Didaktik der Universität Bremen. Ganz neu ist die Idee nicht: In manch einem Unterricht werden zur Veranschaulichung bereits “algebra tiles”, also kleine, bunte Kacheln eingesetzt. Schüler sollen damit Zahlen oder Zahlenmengen besser begreifen können. Ein einfaches Beispiel: Ein Schüler hat sechs gelbe, quadratische Kacheln. Seine Aufgabe: Daraus so viele Rechtecke wie möglich zusammenzusetzen. Am Ende hat er sechsmal eine Kachel und dreimal zwei Kacheln und damit vier Möglichkeiten, die Zahl sechs darzustellen (einmal sechs, sechsmal eins, zweimal drei, dreimal zwei). Bisher gibt es das zum Anfassen, also analog. Der neuartige Ansatz der Bremer Forscher aber ist, diese Kacheln zu digitalisieren und sie intelligent werden zu lassen.

Objekte, die auf Schüler reagieren

Setzt ein Schüler sie künftig ein, sollen sich die “smart objects” mit Tönen, Vibration oder Licht zurückmelden – je nachdem, ob er richtig oder falsch gelegen hat. “Spielerisches Lernen hat einfach Erfolg gezeigt”, sagt auch Dr. Gerald Volkmann vom Bereich Digitale Medien der Universität Bremen, der eng mit der Mathematik-Didaktik zusammenarbeitet. Darüber hinaus sollen die “tiles” auch den Lösungsweg und die Geschwindigkeit des Schülers “lesen” und darauf eingehen. Und sie sollen untereinander agieren und für jedes Problem programmierbar sein – smarte Objekte eben. Zusätzlich haben die Forscher die Idee, das Konzept mit interaktiven Tischen mit Displays oder Tablet-PCs unterstützen. Der Westermann-Verlag in Braunschweig will die neuen Methoden dann als Lehrinhalt weiterentwickeln und in die Klassenzimmer bringen. Erste Prototypen soll es aber erst im Oktober 2017 geben.

Fehlende Grundlagen rächen sich

Doch haben die Forscher recht? Ist Mathematik tatsächlich so unbegreiflich für Schüler? Ja und nein, findet Mathematik-Lehrerin Iris Bardenhorst vom Gymnasium Gaußschule in Braunschweig: “Mathe ist an sich für die Schüler nicht zu schwer.” Das Problem sei eher, dass oft Grundlagen fehlten. Weil in der Mathematik viele Sachen aufeinander aufbauen, räche es sich irgendwann, wenn man gewisse Grundkonzepte nicht verstanden habe. Terme in der Algebra seien tatsächlich ein gutes Beispiel. “Das zieht sich durch den gesamten Stoff bis zum Abitur”, sagt Iris Bardenhorst. Hat man da Probleme, würden diese Lücken durch die gesamte Schulzeit geschleppt. Natürlich gebe es in der Mathematik einen gewaltigen Knackpunkt: Oft muss man fähig sein, abstrakt zu denken. Bardenhorst: “Nicht jeder Schüler kann das gleich gut.”

Frontal-Unterricht funktioniert nicht

Fragt man die Schüler der Gaußschule, scheint sich der Eindruck zu bestätigen. Mathematik ist ultrakompliziert? Das komme ganz auf das Thema an, meinen dort viele. Für den einen ist die Wahrscheinlichkeitsrechnung das Problem, andere schlagen sich mit Sinus und Cosinus herum. Aber auch die Lehrer selbst scheinen unterschiedlichen Einfluss zu haben: Frontal-Unterricht mit völlig abstrakten Erklärungsversuchen empfinden die Schüler nicht nur als unzeitgemäß, sondern vor allem als zu schwer zu begreifen. Viele Lehrer seien aber mittlerweile weiter: Auch wenn Schüler oft das Gefühl äußern, ihre Erkenntnisse in der “echten Welt” kaum gebrauchen zu können, finden sie es gut, wenn der Mathe-Unterricht praxisnah ist. Vor allem digitale Lernmethoden kommen gut an. Für viele Schüler könnte es davon aber noch mehr geben.

YouTube im Klassenzimmer

Auch Mathematik-Lehrerin Iris Bardenhorst findet: “Wir machen heute vieles anders.” Sie selbst kann sich noch daran erinnern, als Schüler stundenlang Kurven diskutiert zu haben: “Das war einfach pures Abarbeiten von Schemata.” Heute würden sie und viele ihrer Kollegen darauf achten, anwendungsorientiert und mit vielen Beispielen zu unterrichten. Funktionen seien eben viel weniger abstrakt, wenn man sie zum Berechnen des Besucherverhaltens in Parks benutze. Auch digitale Methoden kommen zum Einsatz. So schaut sich Bardenhorst mit ihren Schülern schon einmal YouTube-Videos über dreidimensionale Objekte an, die man an der Tafel nie so darstellen könne. Die Pläne der Bremer und des Westermann-Verlags findet die Mathematik-Lehrerin interessant, sieht sie aber allenfalls als Ergänzung zum klassischen Unterricht. Nur dort könnten Lehrer oder Mitschüler verschiedene Lösungswege erklären und Schüler auch einmal nachfragen, wenn sie etwas nicht verstanden haben. Bardenhorst: “Komplett nur über den Rechner halte ich das für schwer.”

von Tino Nowitzki

https://www.ndr.de/nachrichten/niedersachsen/braunschweig_harz_goettingen/Leuchtende-Kacheln-gegen-den-Mathe-Horror,mathe132.html